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Rechtfertigung und Sühne bei Paulus Eine hermeneutische und Theologische Besinnung1

Published online by Cambridge University Press:  05 February 2009

Hans Hübner
Affiliation:
(Fachbereich Theologie, Platz der Göttinger Sieben 2, D-3400 Göttingen, Germany)

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Herr Prof. Dr Cilliers Breytenbach hat im ersten Referat unseres Seminars die Frage nach den neutestamentlichen Sühneaussagen vor allem aus traditionsgeschichtlicher Sicht behandelt. Um in unseren diesjährigen Seminarsitzungen die Sühnethematik aus unterschiedlicher Sicht in den Blick zu bekommen, möchte ich heute ihre hermeneutische Problematik darlegen. Um mich darauf konzentrieren zu können, verzichte ich weithin auf die Explikation exegetischer Detailfragen. Die neutestamentlichen Aussagen über den ‘stellvertretenden Sühnetod Christi’ – diese Formulierung ist freilich die unserer theologischen Fachsprache, nicht die des Neuen Testaments – werden nicht nur auβerhalb des Christentums als unakzeptabel angesehen; auch innerhalb der Zunft der Theologen werden sie problematisiert. So werden sie z.B. von Rudolf Bultmann als nur ‘eine Gruppe’ von paulinischen Aussagen über das Heilsgeschehen beurteilt. Paulus bediene sich, um den Sinn dieses Heilsgeschehens zu beschreiben, ‘einer Reihe von Begriffen, die aus verschiedenen Anschauungskreisen stammen’. Die Aussagen über Jesu Tod als Sühnopfer sind danach eben jene Gruppe von Aussagen, ‘in denen der Tod Jesu in der Begrifflichkeit jüdischer Kultusanschauung, und d.h. zugleich des diese Anschauung bestimmenden juristischen Denkens’ verstanden wird. Damit sind zunächst einmal die paulinischen Sühneaussagen relativiert, eingeebnet unter konkurrierenden Vorstellungen. Mehr noch: Wenn von der Begrifflichkeit jüdischer Kultanschauung die Rede ist, dann ist die Intention vieler Autoren unverkennbar, das Moment des Überholten herauszustellen. Und in der Tat ist ja das in Christus von Gott gewirkte Heilsereignis weder ein kultisches Geschehen noch ist es auf das jüdische Volk eingeschränkt. Erst recht läβt es sich nicht in das Prokrustesbett juristischen Denkens zwingen. Die eigentliche Ablehnung der Vorstellung vom stellvertretenden Sühnetod Christi beruht aber gar nicht so sehr, sofern man Bultmanns Analyse folgt, auf einem exegetischen Sachverhalt, sondern resultiert vor allem aus einer modernen Plausibilität: Der Tod ist ein unvertretbares Geschehen; jeder stirbt seinen eigenen, seinen ureigenen Tod. Sterben und Tod sind nicht delegierbar. Martin Heidegger hat es auf den phänomenologischen Punkt gebracht: ‘Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins.’ Ist aber der Tod in diesem Sinne ontologisch durch Jemeinigkeit konstituiert, so gilt: ‘Keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen. Jemand kann wohl “für einen Anderen in den Tod gehen”. Das besagt jedoch immer; für den Anderen sich opfern “in einer bestimmten Sache”. Solches Sterben für … kann aber nie bedeuten, daβ dem Anderen damit sein Tod im geringsten abgenommen sei. Das Sterben muβ jedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen. Der Tod ist, sofern er “ist”, wesensmäβig je der meine.’

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Copyright © Cambridge University Press 1993

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References

2 Zur Hermeneutik des biblischen Sühneverständnisses habe ich mich bereits in meiner Göttinger Antrittsvorlesung (16. Febr. 1983) geäuβert, in erweiterter Form veröffentlich in KuD 29 (1983) 284–305: ‘Sühne und Versöhnung, Anmerkungen zu einem Kapitel Biblischer Theologie’. Dort ging es vor allem um den kritischen Dialog über die Denkkategorien, in denen biblisch Sühne ausgesagt wird, vor allem mit Rad, Gerhard von, Theologie des Alten Testaments 1 (9. Aufl.; München, 1987) 275ff.Google Scholar; Koch, Klaus, Die israelitische Sühneanschauung und ihre historischen Wandlungen (Habil.-Schrift Erlangen, 1955)Google Scholar; Gese, Hartmut, ‘Die Sühne’, Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge (BEvTh 78; München, 1977) 85106Google Scholar; Janowski, Bernd, Sühne als Heilsgeschehen. Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und zur Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament (WMANT 55; Neukirchen, 1982)Google Scholar; Stuhlmacher, Peter, Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit. Aufsätze zur Biblischen Theologie (Göttingen, 1981)Google Scholar. S. auch Hofius, O., ‘Sühne und Versöhnung. Zum paulinischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu’, Paulusstudien (Tübingen, 1989) 33–19Google Scholar; vor allem aber immer noch: Lohse, E., Märtyrer und Gottesknecht. Untersuchungen zur urchristlichen Verkündigung vom Sühntod Jesu Christi (FRLANT 64; 2. Aufl.; Göttingen, 1963)Google Scholar.

3 Diese habe ich in KuD 29, 284ff. (s. Anm. 2) dargelegt.

4 Bultmann, R., Theologie des Neuen Testaments (9. Aufl., durchgesehen und ergänzt von Otto Merk; Tübingen, 1984) 295.Google Scholar

5 Heidegger, M., Sein und Zeit (14. Aufl.; Tübingen, 1977) 258–9Google Scholar; der ganze Satz von Heidegger gesperrt.

6 Ib. 240 (Kursivdruck durch Heidegger); s. auch die ausgezeichnete Paraphrase der Ausführungen Heideggers über das Dasein als Sein zum Tode in Steiner, George, Martin Heidegger. Eine Einführung (Münster/Wien, 1989) 159ff.Google Scholar (englisches Original: Martin Heidegger [New York, 1978]).Google Scholar

7 S. nur Gal 1.15–16; Röm 15.14ff.!

8 Nicht ohne Grund ist hier von Denkstrukturen die Rede, in denen die Existenzstrukturen gedacht werden. Die Reflexion darüber, inwiefern in beiden Worten der Sinn von ‘Struktur’ in unterschiedlicher Nuancierung, zugleich aber in wesentlichem Bezug aufeinander verstanden ist, kann hier nicht erfolgen. Aus Gründen der theologischen Erkenntnislehre muβ jedoch auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht werden.

9 Also nicht ‘existenziale Interpretation’ im Sinne Heideggers, da es ja nicht darum geht, Existenzialien in fundamentalontologischer Weise aufzuweisen, sondern darum, eine bestimmte ontische Gegebenheit, nämlich die Theologie des Paulus, auf gegebene Denkstrukturen hinsichtlich der Existenz zu befragen.

10 So brieflich an mich; Briefwechsel zum Teil abgedruckt in: H. Hübner, Politische Theologie und existentiale Interpretation. Zur Auseinandersetzung Dorothee Sölles mit Rudolf Bultmann (Witten, 1973) z.B. 31, Anm. 67.

11 Mit Recht expliziert Heidegger, Sein und Zeit, § 26, die existenziale Grundbefindlichkeit des In-der-Welt-seins (ib. § 12 und 13) als ‘Mitsein mit Anderen’.

12 Ib. 1. Kap.

13 Hübner, H., Das Gesetz bei Paulus. Ein Beitrag zum Werden der paulinischen Theologie (FRLANT 119; 3. Aufl.; Göttingen, 1982) 910Google Scholar; englische Übersetzung: Law in Paul's Thought (Edinburgh, 1985) 1.Google Scholar

14 Auβer der in der letzten Anm. genannten Monographie nenne ich hier nur: Drane, J. W., Paul, Libertine or Legalist? A Study in the Theology of the Major Pauline Epistles (London, 1975)Google Scholar; Schnelle, U., Wandlungen im paulinischen Denken (SBS 137; Stuttgart, 1989)Google Scholar; Strecker, G., ‘Befreiung und Rechtfertigung. Zur Stellung der Rechtfertigungslehre in der Theologie des Paulus’, Eschaton und Historie. Aufsätze (Göttingen, 1979) 229–59.Google Scholar

15 Ausführlicher zu dieser Thematik s. Hübner, H., Biblische Theologie des Neuen Testaments 1: Prolegomena (Göttingen, 1990) 227ff.Google Scholar

16 Ich fasse hier ‘anthropologisch’ in einem weiteren Sinne als Heidegger, Sein und Zeit, § 10, der die Anthropologie von der Daseinsanalytik absetzt. ‘Anthropologisch’ meint in unserem Verständnis auch, was mit Aussagen über das Sein als menschliches Dasein intendiert ist.

17 S. Anm. 8!

18 S. Lit. Anm. 13; auβerdem Wilckens, U., ‘Zur Entwicklung des paulinischen Gesetzesverständnisses’, NTS 28 (1982) 154–90.CrossRefGoogle Scholar

19 Horn, F. W., Das Angeld des Geistes (FRLANT 154; Göttingen, 1992).Google Scholar

20 M.E. ist eine Spätdatierung wenig wahrscheinlich; zur Kritik dieser Auffassung Hübner, H., Biblische Theologie des Neuen Testaments 2 (Göttingen, 1993)Google Scholar, Abschnitt 1 Thess.

21 Zur Forschungsgeschichte s. Hübner, H., ‘Paulusforschung seit 1945. Ein kritischer Literaturbericht’, ANRW 2/25.4 (Berlin/New York, 1987) (26492840) 2709–21.Google Scholar

22 Koch, Die israelitische Sühneanschauung, 15.

23 Ib. 15.

24 S. Anm. 2.

25 Gese, ‘Die Sühne’, 292–3.

26 Dazu, Hübner, KuD 29, 284ff. (S. Anm. 2.)

27 Ich habe dem bereits 1983 in meiner Göttinger Antrittsvorlesung widersprochen und freue mich, daβ mir nun Bader, Günter, Symbolik des Todes Jesu (Tübingen, 1988) 94Google Scholar, Anm. 215, in diesem Punkte zustimmt.

28 Aus der Fülle der Lit. nenne ich hier nur Martin Hengel, ‘The Atonement’, The Cross of the Son of God (London, 1986) 189292Google Scholar; Burkert, Walter, Homo necans (Berlin, 1972)Google Scholar; Speyer, Wolfgang, ‘Religionen des griechisch-römischen Bereichs’, Theologie und Religionswissenschaft (hg. Ulrich Mann; Darmstadt, 1973) 124–43Google Scholar. Diese Autoren haben vor allem den Blick auf die Tragiker gelenkt, aber auch auf die alten mythologischen Schriften.

29 Heidegger, Sein und Zeit, § 26.

30 Sophokles König Ödipus 99.

31 Also in gewisser Hinsicht eine Parallele zu Lev 17.11!

32 Statius Thebais 10.768–9.

33 Fabulae, 68.

34 Livius 8.10.7.

35 Cato Phars. 2.304–19.

36 Speyer, ‘Religionen des griechisch-römischen Bereichs’, 139 (s. Anm. 28).

37 Die Frage, wie weit traditionsgeschichtlich der Sühnegedanke hinter Paulus zurück-führt, ist für die hier vorgetragenen Überlegungen deshalb nicht relevant, weil es hier nur um die paulinische Theologie geht. Hαβ Paulus in diesem Zusammenhang auf Tradition zurückgriff, zeigt Röm 3.25. Freilich sehe ich in Mk 10.45 kein authentisches Jesuswort. Wie weit Jesus im Blick auf sich selbst Jes 53 vor Augen hatte, ist eine Frage für sich und nicht unbedingt ein Kriterium für die Frage nach der Authentizität von Mk 10.45.

38 Auf die Affinität des Hebr zu Paulus in dieser Hinsicht sei hier kurz aufmerksam gemacht.