7 - Herrschaftsgenealogie und Staatsgemeinschaft: Zu Kleists Dramaturgie der Moderne im Prinzen von Homburg
Published online by Cambridge University Press: 14 February 2023
Summary
I.
Genealogische Beziehungen Spielen in vielen Texten Kleists eine bedeutsame, manchmal handlungsbestimmende Rolle. Die jüngere Forschung hat ihnen, vor dem Hintergrund eines gestiegenen allgemeinen Interesses am historischen Gegenstand der Genealogie, zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Angelpunkt der Thematik bei Kleist ist die Frage der Legitimität oder Illegitimität der Geburt, die großenteils noch im Horizont der aufklärerischen Opposition von Natur und Kultur abgehandelt wird. Auffallend ist die Insistenz, mit der Kleist den körperlichen Fakten von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt ihre Juridifizierung durch Ehe oder Adoption kontrastiert. Beispiele sind die Erzählungen “Das Erdbeben in Chili,” “Die Marquise von O…,” “Der Findling,” “Die Verlobung in St. Domingo” und “Der Zweikampf,” sowie die Dramen Der zerbrochne Krug, Das Käthchen von Heilbronn und Amphitryon. In einer oft drastischen, sei es tragischen, sei es komischgrotesken Weise spielen diese Werke die Differenz von physischer und rechtlicher Zugehörigkeit aus und stellen damit die traditionelle Familien- und Herrschaftsordnung in Frage, die auf der verbindlichen Zu schreibung der Nachkommen zu Eltern und Vorfahren (in väterlicher Linie) beruhte und dabei die Übereinstimmung von Bluts- und Rechtsverwandtschaft voraussetzte. In der so kodifizierten Generationenfolge besaß der Einzelne seine Identität; er war das festgelegte Glied in einer genealogischen Reihe.
Entscheidend für die Schwächung der genealogischen Ordnung im 18. Jahrhundert war die neu entstehende Familienform, die sich als individuelle Liebes- und Erziehungsgemeinschaft und nicht als Durchgangsstation eines sie übergreifenden Geschlechtsverbands verstand. Als solche, den überkommenen patriarchalen Strukturen entgegengesetzte, sie bedrohende und aushöhlende Macht erscheint diese Familie auch in den genannten Werken Kleists, die in vielen Momenten an Konstellationen der empfindsamen Aufklärung anschließen, diese aber zugleich relativieren, parodistisch zuspitzen oder verkehren. Familiäre Gefühlssphäre und traditionelle Genealogie überschneiden sich in Kleists Werk in komplexen Figurationen; sie erscheinen selten klar geschieden oder in eindeutige Werteopposition gebracht.
Politische Brisanz besaß die neue Konzeption von Familie, insofern sie das Prinzip der dynastischen Nachfolge in Frage stellte, auf dem der feudal-absolutistische Staat beruhte. Der Widerspruch zwischen dem Erbfolgeprinzip und den (im weitesten Sinn) familiären Wertvorstellungen prägte die Ideologie des aufgeklärten Absolutismus, von der Kleists Preußen noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestimmt war. Dem Monarchen wurde eine intim-väterliche Rolle zugesprochen, ohne dass man den Grundsatz genealogischer Legitimität ernsthaft anzuzweifeln wagte.
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- Heinrich von Kleist and Modernity , pp. 113 - 130Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2011