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Helena: vom Mythos zur Person

Published online by Cambridge University Press:  02 December 2020

Oskar Seidlin*
Affiliation:
Ohio State University

Extract

Bedürfte es eines Vorwandes, immer wieder sinnend und grübelnd zum Helena-Akt des II. Faust zurückzukehren, er ließe sich leicht in Goethes Aufforderung an seine Freunde finden, dem “Verdeckten” in dem lang und weit Bekannten forschend nachzuspüren. Ein Fühlender, so schreibt Goethe, “wird dasjenige durchdringen, was gemütlich hie und da verdeckt liegt: Eleusis servat quod ostendat revisentibus, und es soll mich freuen, wenn diesmal auch das Geheimnisvolle zu öfterer Rückkehr den Freunden Veranlassung gibt.” Wie oft er auch sich darauf berufen haben mag, daß an dem zweiten Teil der großen Dichtung “der Verstand mehr Recht habe” als am ersten, so hat er doch gern mit verschmitzten Anspielungen auf das Dunkle und Unergründliche hingedeutet, “was da hineingeheimnißet ist.” So mag es denn auch nicht ganz abwegig scheinen, aus der Masse des Helena-Zwischenspiels eine “Reflexion” herauszuheben, die von der Faust-Deutung bisher nie aufgegriffen wurde: der Erdenwandel Helenas als das Abbild der Ueberwindung des mythischgebundenen Menschen.

Type
Research Article
Information
PMLA , Volume 62 , Issue 1 , March 1947 , pp. 183 - 212
Copyright
Copyright © Modern Language Association of America, 1947

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References

1 Brief an Ilken, 27. September 1827.

2 Brief an H. Meyer, 20. Juli 1831. Vgl. auch Brief an Wilhelm v. Humboldt, 1. Dezember 1831 und Gespräche mit Eckermann, 18. April 1827.

3 Brief an Zelter, 26. Juli 1828. Vgl. auch Brief an Knebel, 14. November 1827.

4 Mit dem hier Ausgeführten soll keineswegs den Verteidigern der “Uneinheitlichkeit” des großen Werkes das Wort geredet werden. Der Helena-Akt ist fraglos ein unablösbarer Teil des Gesamtgefüges. Trotzdem scheint es uns möglich und notwendig, die Eigenwertigkeit des Helena-Schicksals zu unterstreichen.

5 “Ueber Kunst und Altertum,” Sechsten Bandes erstes Heft, 1827 (WA, xli (2), 291).

6 “ … meine Helena ist wirklich aufgetreten. Nun zieht mich aber das Schöne in der Lage meiner Heldin so sehr an, daß es mich betrübt, wenn ich es zunächst in eine Fratze verwandeln soll. Wirklich fühle ich nicht geringe Lust, eine ernsthafte Tragödie auf das Angefangene zu gründen.” (Brief an Schiller, 13. September 1800.)

7 Man “möge sich des von uns dargestellten Verhältnisses von Faust zu Helena gleichmäßig annehmen, ein Verhältnis, das in freierer Kunstregion hervortritt und auf höhere Ansichten hindeutet als jenes frühere, das in dem Wust … bürgerlicher Beschränktheit, sittlicher Verwirrung zugrunde ging und nur durch einen Hauch von oben … für die Ewigkeit gerettet werden konnte.” (Aufsätze zur Literatur, März/April 1827, WA, xv (2), 214).

8 Es sei gestattet, dass wir uns hier wie an anderen Stellen der meisterhaften Terminologie bedienen, die Thomas Mann für die Daseins- und Wesensformen des mythischen Menschen geprägt hat. Es wird dem Leser nicht entgangen sein, dass unser Deutungsversuch der Helena sich in Bahnen bewegt, die Thomas Mann in seiner Interpretation des Joseph-Komplexes als der Entwicklungsgeschichte des Menschen vom Mythos zur Person für uns eröffnet hat. Es ist nicht mehr als die Abtragung einer großen Dankesschuld, wenn wir seine Worte dort einsetzen, wo seine geistige Leistung uns neue Ausblicke erschlossen hat.—An dieser Stelle auch sei für wertvolle Hinweise und hilfreiche Verbesserungsvorschläge den Kollegen und Freunden herzlich gedankt: den Professoren Bernhard Blume (Ohio State), Ernst Feise (Johns Hopkins), Ruth Hofrichter (Vassar), Carl F. Schreiber (Yale), Karl Viëtor (Harvard) und Hermann J. Weigand (Yale).

9 Ernst Traumann (Goethes Faust [München 1920], ii, 206) weist auf diesen Zustand hin, ohne ihn freilich in unserem Sinne auszudeuten.

10 Vielleicht trägt es zur Verdeutlichung unserer Fragestellung bei, wenn wir hier eine Briefstelle Schleiermachers (vom 24. August 1802) einsetzen: “Personalität und Individualität unterscheide ich nämlich so, dass zur letzteren nur das innerliche Charakteristische gehört, vermöge dessen ein Mensch seine eigene Darstellung der Menschheit ist, zur Personalität alles, vermöge dessen er ein abgesondertes Wesen in der äusseren Welt ausmacht, sein Körper, seine Organe, seine Rechte, seine bestimmte Lage in der Welt.” (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Reihe Romantik [Leipzig, 1931], iv, 116).

11 Die neu hinzugefügten Chorstellen haben keine andere Funktion, als den langen Auftrittsmonolog der Helena aufzulockern und dem ursprünglich stiefmütterlich bedachten Chor größeres Gewicht zu verleihen.

12 Die Erklärung, dass Goethe die erste Zeile in engster Anlehnung an Euripideische Auftrittsmonologe zugefügt habe (Adolf Trendelenburg, Goethes Faust [Berlin, 1921], ii, 332) ist nicht recht überzeugend. Wenn Euripides als strenges Muster galt, dann viel eher in der Zeit, da das erste Helena-Bruchstück entstand als in der Schaffensperiode des hohen Alters. (“Auf der Grundlage des neuen Planes—von 1797—dichtete Goethe im September 1800 den Anfang des dritten Aktes, in der Form der … Helena des Euripides nachgebildet,” Georg Witkowski, Goethes Faust, Leiden 1936, ii, 357).—Richtiger und wichtiger als ein Hinweis auf Euripides schiene es mir, hier die Parallelität zwischen Helenas Einführungsworten und denen der Erichtho in der “Klassischen Walpurgisnacht” (V. 7005-7038) zu beachten. Auch Erichtho führt sich mit Namen ein, und dem “bewundert viel und viel gescholten” entsprechen seltsam ihre Worte:

Nicht so abscheulich wie die leidigen Dichter mich
Im Uebermass verlästern. Endigen sie doch nie
In Lob und Tadel …

Sollte sie nicht als Hüterin der “ewigen Wiederkehr,” der mythischen Zeitlosigkeit (“Wie oft schon wiederholt' sich's! Wird sich immerfort ins Ewige wiederholen”), in ihrem gefährdet-gefährlichen Verhältnis zum Leben (“Ich wittre Leben. Da geziemen will mir's nicht, Lebendigen zu nahen, dem ich schädlich bin“),—sollte sie in all dem nicht schon auf Helenas mythisches Verfallensein vorausdeuten, in dem wir ja sehr ähnliche Elemente wiederfinden werden?

13 Das Wort “Sage” können wir zum Beleg nicht heranziehen, denn es ist hier natürlich nicht in dem üblichen Sinne gebraucht, sondern an Stelle von “das Gesagte, der Bericht.” Aber dass Goethe die Zweideutigkeit zulässt, erscheint uns mehr als eine sprachliche Marotte.—Daß Goethe durch diese Aenderung auch eine metrische Unebenheit behoben hat,—der ursprüngliche Vers war mit seinen sieben Hebungen übertaktig—soll nicht unvermerkt bleiben.

14 E. Traumann (a.a.O., 209) spricht mit Recht von der “ernsten, fast düsteren Würde der Königin.”

15 Sehr schön hat Emerson in seinem Goethe-Essay jede “einmalig psychologische” Interpretation zurückgewiesen. Im Zusammenhang mit der Helena-Episode heisst es da (Representative Men [Boston, 1903], 272 f.): “Der Verstand dieses Mannes ist ein so mächtiges Lösungsmittel, dass die vergangenen und das jetzige Zeitalter, ihre Religionen, Politiken und Denkungsarten, sich darin zu Urtypen und Ideen auflösen” (Zitiert nach Thomas Mann, Leiden und Größe der Meister [Wien 1936], 55).—Man vergegenwärtige sich hier auch Goethes Behandlung des Iphigenie-Motivs, die sich in genau umgekehrten Bahnen bewegt. Während in der Helena das Mythische alles Psychologische überspielt, wird in der Iphigenie alles Mythologische in Psychologisches aufgelöst. So wird aus den Erinnyen, die den Muttermörder verfolgen, Orests innerer Seelenkampf, so wird aus der Entführung des Kultgegenstandes die Heimführung der Schwester, so wird aus dem Befehl der Gottheit die innere Einsicht und Versöhnung des Barbarenfürsten.

16 Es ist wahr, dass in den frühen Zeiten der Unterschied zwischen Schiffahrt und Raubschiffahrt fliesssend war. Aber dass Phorkyas und später auch Faust (V. 9460) den “klassischen” König in diesem Licht ergcheinen lassen, ist interessant genug.

17 So auch bei Kuno Fischer, Goethes Faust (Heidelberg, 1903), iv, 878.

18 Benjamin Hederich, Lexicon Mythologicum, das Goethe als Nachschlagewerk benutzte, (vgl. dazu ausführlich Erich Schmidt, Helena und Euphorion, Straßburg 1889, 167 ff.) erwähnt Tyndareus als Helenas Vater, aber es ist ja doch klar, daß allen Beteiligten im Helena-Akt der “wahre” Sachverhalt durchaus gegenwärtig ist. und doch spricht Helena ein einziges Mal nur von ihrer göttlichen Herkunft (v. 8648), und da “entfährt” ihr diese Bemerkung recht eigentlich unter dem Eindruck des Ansturms der Unterwelt, die ihr aus Phorkyas' Augen entgegenstarrt. Es sind ihre ersten, “bewegten” Worte, als sie vor dem Scheusal ins Freie flieht.

19 Es ist nicht ohne Interesse, dass wir auch hier einer Textänderung in dem ursprünglichen Helena-Gedicht vom Jahre 1800 begegnen, einer Aenderung, die das Unterweltliche, dem sich Helena ausgeliefert sieht, auf das Schärfste unterstreicht. Hiess es in der ursprünglichen Fassung: “So haben mir die Götter heute grauenvoll Den Eintritt in mein Haus bezeichnet,” so lesen wir nun: “So haben heute grauenvoll die Stygischen Ins Haus den Eintritt mir bezeichnet.”

20 So auch bei Kuno Fischer, a.a.O., 875.

21 Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, daß sich Helena, ganz im Einklang mit ihrer a-personalistischen Existenz, während des ganzen Verlaufes nicht schuldig fühlt. Nie kommt es ihr in den Sinn, daß sie zu sühnen habe, daß ihre Tötung die Strafe für Ehebruch und bewirktes Unheil sei. Sie fühlt sich nicht unter der Schuld, sondern unter dem Verhängnis stehend (V. 8531-34; 9247-53). Als ihr Phorkyas ein Schuldgefühl, eine Ahnung, daß sie etwas zu sühnen habe, suggerieren will, erweist sich Helena völlig verständnislos, und wir können nicht glauben, daß sie sich einfach verstellt. Als Phorkyas ihr in Erinnerung bringt, wie Menelaos den Deiphobus, der sich liebend an Helena verging, bestraft hat (V. 9054-58), weist sie diese Anspielung als durchaus unzutreffend zurück. “Das tat er jenem, meinetwegen tat er das.” Der Gedanke, daß auch sie sich vergangen habe, daß auch sie “etwas wegen” sühnen müsse, kommt ihr gar nicht. (V. 9052-53)—So auch Heinrich Düntzer, Goethes Faust (Leipzig 1900), ii, 206, 214 und K. A. Meissinger, Helena (Frankfurt, 1935), 92.

22 V. 8588. Vgl. Düntzer, a.a.O., 207; Traumann, a.a.O., 209; Eugen Kühnemann, Goethe (Leipzig, 1930), ii, 465.

23 So auch Kühnemann, a.a.O., 473, und Erich Schmidt, Goethes Werke (Jub.-Ausgabe), xiv, S. XXX.—Der Einwand, daß Phorkyas' Worte recht eigentlich an die Choretiden und nicht an Helena gerichtet sind, scheint mir nicht stichhaltig. Schon die vorangehende Szenenanweisung macht deutlich, dass der Chor und Helena hier als eine Einheit auftreten. Ausserdem ist es Phorkyas' hinlänglich bekannter Trick, daß er den Chor anredet und die Königin meint, daß er seine Ungehörigkeiten auf Umwegen und mit scheinheiliger Verstecktheit an die Person bringt.

24 Zu der bei Goethe so häufig begegnenden Assoziation der Finsternis mit Schöpfungsleere, mit vorweltlichem Nichts vgl. Verf.: Das Etwas und das Nichts, Germanic Review, xix (1944), 174f.

25 Eine große Anzahl Faust-Kommentatoren (Witkowski, a.a.O., 108, 361; Traumann, a.a.O., 203) wollen in dieser Verdüsterung Helenas nicht mehr sehen als die Erinnerung ihrer Zugehörigkeit zum Orkus. Dabei gehen sie alle von der bestimmten Voraussetzung aus, daß die Vorstellung, Helena sei aus der Unterwelt heraufgeholt, durchgängig und strikt beibehalten werden müsse. Es kann an dieser Stelle auf die “Antezedentien” der Helena nicht ausführlich eingegangen werden. Aber vielleicht wäre doch etwas Vorsicht am Platze bei der apodiktischen Behauptung dieser Kommentatoren, dass wir uns Helena immer als von Faust aus der Unterwelt losgebeten zu denken haben. Der Text des dritten Aktes, so wie er uns vorliegt, erinnert nur an zwei Stellen einigermaßen einwandfrei daran (V. 9118 und 9988), daß die Königin und ihr Gefolge Revenants aus dem Orkus seien, und auch da sind die Anspielungen immer nur von den Choretiden, nie von Helena selbst gemacht. Alle anderen Belegstücke sind aus Plänen und Skizzen des Dichters geschöpft, die nicht zur Ausführung gelangten. Es bleibt doch nun einmal eine unumstößliche Tatsache, daß Fausts Gang in die Unterwelt und seine Losbittung der Helena von Proserpina, die er in seinen privaten Aeußerungen selbst als ein so gewichtiges Vorhaben bezeichnete (Eckermann, 15. Januar 1827), nicht ausgeführt wurden. Die Auslassung eines so entscheidenden Verbindungsgliedes damit zu erklären, daß Goethe die “Stimmung dazu nicht in erwünschtem Maße gekommen” sei (Witkowski, a.a.O., 108), scheint mir nicht recht überzeugend. Gewiß, in seiner “Ankündigung” der Helena vom Juni 1826, in seinem “Schema zu Faust, zweiter Theil” vom November 1826 und in seiner “Einleitung zur Helena” vom Dezember 1826 hat der Dichter den Plan von Fausts Wanderung in die Unterwelt und seiner Unterredung mit Proserpina genau niedergelegt. Aber aufschlußreich ist doch, daß er keine dieser drei Ankündigungen veröffentlicht hat und sich damit seine Bewegungsfreiheit in Sachen Helena offen ließ. Als die “Einleitung zur Helena” vom Dezember 1826 dann gleichzeitig mit dem Helena-Akt zu Ostern 1827 erschien (Ausgabe letzter Hand), war sie völlig zusammengestrichen und enthielt kein Wort von Fausts Unterweltsfahrt und seiner Freibittung der Helena. Ganz fallengelassen war der Plan gewiß nicht, denn noch im Juni 1830 erscheint er in einem Paralipomenon. Dagegen ist doch aber nicht zu übersehen, daß Goethe—parallel mit andersartigen Plänen—die Helena-Erscheinung und -handlung als ganz unabhängig von jeder Unterweltsbeschwörung für möglich gehalten hat. Im Mai 1827 schreibt er an Zelter: Helena tritt zu Anfang des dritten Aktes “als Heroine ohne Weiteres auf,” und am 23. Oktober 1826 schon hatte er an Wilhelm von Humboldt geschrieben, daß der dritte Akt “seine volle 3000 Jahre spielt, von Trojas Untergang bis zur Einnahme von Missolunghi.” Das bedeutet doch fraglos, daß Helena wirklich von Troja kommt und nicht nur träumt, von Troja zu kommen. Akzeptieren wir diese Möglichkeit nicht, dann verwickeln wir uns in Schwierigkeiten, die sich in Witkowskis Kommentar etwa (a.a.O.) so deutlich zeigen. Für ihn kann Menelaos “nicht in der Nähe sein, denn er wurde ja nicht aus dem Orkus beurlaubt” (S. 368). (Wollte man ein Pedant sein, so könnte man ja fragen, ob das nicht auch auf den Chor und die Chorführerin zutreffen müßte). Danach würden dann aber die Trompetenstöße und das Kanonengedonner nichts als ein Zauberkunststück des Mephisto sein (S. 364), was aber, wenn man sich an die Antezedentien so strikt hält, nicht der Fall sein darf, weil nach der “Ankündigung” vom Juni 1826 “alles Uebrige, sowie das Gewinnen ihrer Liebe, auf menschlichem Wege zugehen müsse.” Wenn aber Menelaos nicht auf der Oberwelt ist, dann ist der Kriegszug von Fausts Vasallen gegen Helenas Gatten eine fragwürdige Finte. und seltsam mutet Witkowskis Frage an: “Glaubt Faust, dass Menelaos wirklich heranrückt?” (S. 368). Wie könnte er das glauben, da er doch Helena aus dem Hades heraufgeholt hat und besser als jeder andere wissen müßte, daß sich Menelaos ihnen nicht angeschlossen hat.—Die klarste und überzeugendste Beweisführung von Helenas voller Wirklichkeit, dem Mangel aller Orkus-Phantasmagorie bietet Wilhelm Hertz, Naturphilosophie im Faust (Berlin 1913), 131 ff.; ders., Natur und Geist in Goethes Faust (Frankfurt 1931) 197; Kurt May, Faust II (Berlin 1936), 137. Dagegen die Behauptung von der völligen Traumhaftigkeit des Helena-Aktes bei K. A. Meissinger, a.a.O., 127 f. Erinnert sei an dieser Stelle auch an die kühne, aber keineswegs leicht zu nehmende Hypothese Veit Valentins in seinem Aufsatz “Homunculus und Helena” (Goethe-Jahrbuch, xvi (1895), 127 ff.), wonach das eigentliche Antezedenz der Helena Homunculus ist und dessen Zerschellen am Wagen der Galathee die Geburt der Helena.

26 Eine Hindeutung auf die Interpretationsmöglichkeit der Helena in unserem Sinne bei Kuno Fischer, a.a.O., 871 f.

27 Vgl. hierzu die ungemein interessanten Ausführungen von Wilhelm Emrich, Die Symbolik vom Faust II (Berlin 1943), 375: “Phorkyas und Helena sind im Grunde nicht mehr als treibende und getriebene Werkzeuge und Beschwörer des Vergangenen, das unheimlich sich steigernd schliesslich das Urverhältnis von ‘Wahn’ und ‘Gedächtnis,‘ Traum und Geschichte klärend heraufführt.”

28 Es scheint uns durchaus zulässig, ja, im Interesse der Klärung der Begriffe sogar angezeigt, das Wort “Gestalt” in diesem Zusammenhang so zu verstehen, wie es die moderne Gestaltpsychologie definiert und befestigt hat.

29 An Versuchen zur Deutung dieser Stelle fehlt es nicht. Heinrich Rickert (Goethes Faust, Tübingen 1932, 367) glaubt, Helena wolle zum Ausdruck bringen, es ginge die anderen nichts an, warum sie tut, was sie tut. Traumann (a.a.O., 218) behauptet, es läge darin eine Vorahnung “erneuten Ungehorsams, wiederholter Verfehlung gegenüber ihrem Gatten.” Düntzer (a.a.O., 223) läßt sie an Selbstmord denken, falls ihr bei Faust Unwürdiges zugemutet werde. Für Kühnemann (a.a.O., 477) drücken sich in diesen Worten Ahnungen neuer Liebesmöglichkeiten aus. Welche von diesen Deutungen die annehmbarste sei, wollen wir nicht entscheiden. Unserer Deutung am nächsten steht Kuno Fischer (a.a.O., 883). Die Traumannsche müssen wir ablehnen, da sie voraussetzt, Helena sei sich einer Verfehlung Menelaos gegenüber bewußt (Vgl. Anm. 21).

30 Vgl. Trendelenburg, a.a.O., 364.

31 Ebenda, 310 mit Bezug auf V. 8497/98. Trendelenburg und Düntzer (a.a.O., 209) weisen auch darauf hin, dass die Innenarchitektur des Schlosses, wie sie Helena in V. 8667-87 beschreibt, aus Odyssee, xxi, 5 übernommen ist, also keineswegs die Verbindung mit Tiryns und Mykenä logisch oder historisch verständlich macht.

32 Es mag unsere Auffaßung bekräftigen, daß der Vergleich zwischen den trojanischen Helden und Fausts Volk in den nächsten Zeilen—und durchaus zugunsten Faustens—wirklich gezogen wird.

Man schilt das Volk Barbaren; doch ich dächte nicht,
Daß grausam einer wäre, wie vor Ilios
Gar mancher Held sich menschenfresserisch erwies.

33 Die Nummerierung der Paralipomena folgt hier und an allen anderen Stellen Witkowski, a.a.O., i.

34 Die “Entfernung des Raumes,” von der Goethe hier noch spricht, ist später freilich fallengelassen worden. Er betont ausdrücklich (an Humboldt, 22. Oktober 1826), daß die Einheit des Ortes streng gewahrt sei. Auch der Faust-Teil der Helena-Handlung spielt nicht, wie ursprünglich geplant, im Rheintal, sondern in Lakedämonien.

35 Fausts Eroberung des Peloponnes basiert auf einer Episode des vierten Kreuzzuges, der Errichtung eines Lehnstaates auf klassischem Boden unter Geoffroi de Villehardouin (nicht zu verwechseln mit seinem gleichnamigen Onkel, dem Chronisten des Vierten Kreuzzuges) im Jahre 1208. (Zur Eroberung von Achaia durch Guillaume de Champlitte und Geoffroi de Villehardouin und zur Regentschaft des Haues Villehardouin vgl. Sir James R. Rodd, The Princes of Achaia and the Chronicles of Morea, London, 1907, i.—Ueber Goethes Verwendung dieser Episode vgl. Helene Wieruszowski, “Das Mittelalterbild in Goethes Helena,” Monatshefte für deutschen Unterricht, xxxvi (1944), 67. (Ebenda, 70, über die Gründe für den Völkerwanderungsauftakt des Lynkeus.)

36 Einschränkend muß hier bemerkt werden, daß natürlich im prosodischen Sinne die metrische Verssprache Helenas auch “gebundene Rede” ist. Hingegen bedeutet der Reim gegenüber dem nur Metrischen einen höhren Grad an “Gebundenheit.”

37 Von den älteren Faust-Kommentatoren hat als erster Kuno Fischer (aa.O., 895) auf das erotische Element dieses Reimspiels hingewiesen. Dann später besonders deutlich Rickert, a.a.O., 369.

38 Kuno Fischer (a.a.O., 895), Witkowski (a.a.O., 367) und andere erinnern im Zusammenhang damit an den Vers des West-Oestlichen Divan (Buch viii, Nr. 39) “Behramgur, sagt man, hat den Reim erfunden … .” In dieser Geburt des Reimes aus der Wechselrede deutet sich der Durchbruch von der “naiven” greichischen Poesie zur “Erlebnisdichtung” an. Im ganzen folgt Goethe hier Kunsttheorien, die von der Romantik in Umlauf gesetzt wurden: die enge Verbindung von Reim und Erotik findet sich besonders deutlich ausgeprägt in Tiecks Kaiser Octavianus.

39 Auch im 57. Paralipomenon wird die Existenz Helenas als “Leere” bezeichnet. Da steht das Wort zwischen den Stichworten “als Rittersfrau” und “Annäherung an Faust” (dem die Stichworte “Liebschaft. Hymenaea” folgen), also genau an der Stelle, die im ausgeführten Text die Reimdiskussion einnimmt.

40 Wir wollen hier nicht in den Streit eintreten, ob wir unter dieser Liebesvereinigung auch die intimst körperliche Verbindung zu verstehen haben. Eine Gruppe von Faust-Forschern, vor allem Friedrich Theodor Vischer (Kritische Gänge, Neue Folge 1863, Viertes Heft, 90 und Goethes Faust, Stuttgart 1876, 137), Erich Schmidt (Goethes Werke, Jub.-Ausgabe, xiv, S. xxxi und 367), Rickert (a.a.O., 371), Kurt May (a.a.O., 161, 168) glauben, dass es sich um die “schrankenlose Vereinigung” handle. Dem widersprechen Witkowski (a.a.O., 368), Johannes Niejahr (Goethes Helena, Euphorion, i (1894), 88) und Trendelenburg (a.a.O., 385). Eine dritte Gruppe, vertreten etwa durch Traumann (a.a.O., 225, 229) kann sich zu einer eindeutigen Entscheidung nicht durchringen. Für unsere Ausführungen ist es irrelevant, ob wir “nur” die geistig-seelische oder auch die körperliche Vereinigung als vollzogen betrachten. Für uns liegt der Nachdruck auf der Oeffentlichkeit des Vollzugs, die unbestreitbar ist.

41 Diese Notwendigkeit betont auch Rickert, a.a.O., 371.

42 Auch hier muss auf die immer noch fortwirkende formale Parallelität zwischen dieser Wechselrede und dem Dialog Phorkyas-Helena hingewiesen werden. Was dort als Doppel-Stichomythie erschien, erscheint jetzt als Wechsel binnengereimter Zweizeiler.

43 Nur eine Deutung, die zu diesen Zeilen den Begriff der Entelechie heranzieht, wird das logiche Paradoxon der “Treue zum Unbekannten” lösen können. Es spricht daraus eine Schicksalsgläubigkeit, die nur möglich ist auf dem Boden einer prästabilierten Gemässheit von persönlicher Anlage und ausserpersönlichen Begegnungsmächten. Das aber ist die Konstellation, in der “Entelechie” ins Licht tritt. Wie entschieden diese “Treue” die Person konstituiert, wird sich an späterer Stelle noch zeigen. Hier aber ist wieder der Moment zu ermessen, welch einschneidende Wendung Helenas Existenz genommen hat: aus passiver Schicksalsverfallenheit hat sie herausgefunden zu aktiver Schicksalsgläubigkeit, zur Bejahung des Unbekannten, das durch die Konstanz der Person in den organischen Lebensbereich einbezogen werden kann.

44 Sehr ähnlich spricht W. Emrich (a.a.O., 389) von der “Feier des Augenblicks.”

45 W. Hertz (Naturphilosophie im Faust, 139) spricht von Helenas Sterben als von einem “Willensakt.”

46 Daß Goethe bei dieser Beschreibung der Unterweltsflora der Odyssee (x, 394 ff.; xi, 529, 573) folgt, kann kein Grund sein, die symbolische Bedeutung auszuschließen.

47 Wie eng diese Worte mit Goethes Persönlichkeitsvorstellung verbunden sind, belegt schon ein Brief vom 3. Dezember 1781 (an Knebel): “ … weil es ein Artikel meines Glaubens ist, dass wir durch Standhaftigkeit und Treue in dem gegenwärtigen Zustand ganz allein der höheren Stufe eines folgenden wert, und sie zu betreten fähig werden, es sei nun hier zeitlich oder dort ewig.”

48 Die Deutungen der Faust-Kommentatoren hinsichtlich der elementaren Auflösung der Choretiden gehen weit auseinander. Am wenigst glücklichen scheint Trendelenburg (a.a.O.), der auf S. 309 behauptet, “Goethe läßt seine Helena in einem mächtigen Hymnus auf die segenbringende Kraft der vier Elemente ausklingen,” um uns auf S. 428 zu versichern, “daß sich in den dionysischen Bildern des Schlußgesangs eine Welt entrollt, die sich nicht sowohl göttlichen Segens als göttlichen Unsegens zu versehen hat.” Unserer Interpretation am nächsten steht Düntzer (a.a.O., 255): “Zeigte uns der Schluß der klassischen Walpurgisnacht in Galathea gleichsam als Vorbereitung auf Helena die höchste Vollendung griechischer Kunst, so wird hier am Schluß ihr Untergang durch den Einfluß des ausschweifenden Dionysosdienstes uns vor Augen gestellt,”—wobei Düntzer freilich das Problem auf das bloß Aesthetische verengt, während wir es auf das Existenzielle erweitern möchten.—Dazu Wesentliches bei W. Emrich (a.a.O., 427).

49 Trendelenburg (a.a.O., 430) glaubt, Mephisto würde im Epilog zum Ausdruck gebracht haben, daß er der spiritus rector der dionysischen Orgie sei und damit seine führende Rolle in der Veranstaltung der ganzen Phantasmagoric in Erinnerung bringen. (Gegen diese Deutung wendet sich Kühnemann, a.a.O., 500). Traumann (a.a.O., 352) und K. J. Schröer (Faust von Goethe, Stuttgart 1926, ii, 281) halten für möglich, daß Goethe diese rätselhafte Anspielung eingesetzt habe in Erinnerung an den Phorkyas-Epilog (Paralipomenon 12), der freilich nach dem Kriegszug gegen Menelaos gesprochen werden sollte und wegen seiner Vorausdeutung auf Euphorion an den Schluß des Aktes nicht passen würde. Aber da jede Deutung in diesem Falle nur Spekulation sein kann, mag die unsere vielleicht neben anderen bestehen dürfen.

50 Brief an Heinrich Meyer, 20. Juli 1831.

51 Brief an Knebel, 14. November 1827.