from Documents from the Inaugural 24h DURCHEINANDER in Berlin
Published online by Cambridge University Press: 11 March 2017
Verehrter Bert Brecht,
hier stocken wir schon, denn an wen richten wir dieses Schreiben? An Sie, den anarchischen, manchmal expressionistischen Dichter der frühen Gedichte und des Baals? An Sie, den Brecht der Neuen Sachlichkeit, der schreiben konnte “Das Abc heißt: man wird mit euch fertig werden”? An den marxistisch denkenden Brecht, der das Modell der Lehrstücke erdachte? An Sie, den Erfinder tragischer Figuren vom jungen Genossen des Lehrstücks Die Maβnahme bis zu Gestalten ihrer Klassiker des epischen Theaters, zum Beispiel Mutter Courage? Auch wenn es besonders der eine Brecht ist, nämlich der “Andere,” den wir ansprechen, so meinen wir doch auch irgendwie Sie, die anderen, mit.
Sie waren eben nicht einer, sondern immer ein “Anderer,” und dadur ch ein Veränderer. Sie sahen sich nie als den “Besitzer” von Ideen und no tierten früh in Ihren Tagebüchern 1932:
Ich glaube nicht, dass ich jemals eine so ausgewachsene Philosophie haben kann wie Goethe oder Hebbel, die die Gedächtnisse von Trambahnschaffnern gehabt haben müssen, was ihre Ideen betrifft. Ich vergesse meine Anschauungen immer wieder, kann mich nicht entschließen, sie auswendig zu lernen.
Und wir vergessen nicht Ihre wundervolle Beschreibung, als Sie einmal ihr Gesicht betrachteten, vor dem Spiegel Kirschen essend:
Mein Gesicht hat viele Elemente von Brutalität, Stille, Schlaffheit, Kühnheit und Feigheit in sich, aber nur als Elemente, und es ist abwechslungsvoller und charakterloser als eine Landschaft unter wehenden Wolken. Deshalb können viele Leute mein Gesicht nicht behalten (“es sind zu viele”’ sagt die Hedda).
“Wer immer es ist, den ihr sucht—ich bin es nicht.” Wir beide, die Ihnen diesen Brief schreiben, fanden das so wahr, dass wir—damals noch unbekannt miteinander—zur gleichen Zeit, 1991, das Motto “Der andere Brecht” für eine Brechtveranstaltung wählten. Der eine in Augsburg, die andere in Athen. Damals reichte unsere Bekanntschaft mit dem, was Sie schrieben, schon weit zurück. Bei dem einen bis in seine Bremer Jugendzeit, als er als Schüler in einem der blassgelben schmalen Einzelausgaben Ihrer Stücke am Fenster einer Bibliothek oder Buchhandlung der Innenstadt diesen Satz las und elektrisiert war: “Dass da gehören soll, was da ist, denen die für es gut sind.” Elektrisiert vom Inhalt, der den jugendlichen Sinn für Gerechtigkeit ansprach; aber ebenso sehr formal, durch das wundervolle kleine Stolpern in Syntax und Klang, “die für es gut sind.” Ein so schlagend einfacher Dreh, den der Deutschlehrer vermutlich moniert hätte.
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