Published online by Cambridge University Press: 05 April 2013
Es ist die Welt noch, die gebrechliche,
Auf die nur fern die Götter niederschaun.
— Heinrich von Kleist, PenthesileaIM ZUGE DER TIEFGREIFENDEN gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozesse ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfährt die Semantik der Traurigkeit wesentliche Erweiterungen und Umdeutungen. Nicht zuletzt korreliert dies mit der “Entdeckung” des modernen Individuums sowie dem umfassenden Neuarrangement der Diskurse über Gefühle und Empfindungen in dieser Epoche. Traurigkeit erscheint hierbei als eine Form der krisenhaften Selbstwahrnehmung des Individuums. In zeitgenössischen Quellen markiert daher Traurigkeit vielfach ein spezifisch modernes Empfinden existenzieller Verunsicherung, dem die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Individualitätserfahrung zugrunde liegt. In diesem Sinne spiegelt Traurigkeit eine Modernitätserfahrung schlechthin wider, nämlich jene der Kontingenz, also die stets präsente Möglichkeit des Andersseins sowohl der äußeren als auch der inneren Welt des Subjekts. Dies ist, gegenüber der semantischen Tradition des Traurigkeitsbegriffs seit der Antike und dem christlichen Mittelalter, das wesentliche Signum der modernen Semantik der Traurigkeit.
Traurigkeit in der Vermoderne: Religion und Schicksalsnotwendigkeit
Über viele Jahrhunderte hinweg, in denen die christliche Moral den Rahmen möglicher Sinndeutungen absteckte, galt Traurigkeit als eine Vorahnung künftigen Verhängnisses. Sie stellte sich ein aufgrund des über jeden Menschen schwebenden Gottesgerichts und folgte damit der niederschmetternden Erkenntnis, qua Erbsünde von Geburt an der Gnade Gottes ausgeliefert zu sein. Traurigkeit verband sich also mit dem Bewusstsein, dass das Schicksal von einer Instanz bestimmt wird, die außerhalb menschlicher Einflussmöglichkeiten steht. Sie reflektierte den Umstand, dass der Mensch in einer anderen Welt unausweichlich für sein Handeln und Verhalten zur Rechenschaft gezogen wird, dass also auf die kontingente (menschliche) Wahl zwischen Gut und Böse das notwendige (göttliche) Urteil folgt.
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