Published online by Cambridge University Press: 28 July 2009
Für den politischen Soziologen, der sich seiner Zeit ver-pflichtet weiß, gibt es heute vor allem zwei Probleme, und beide sind Probleme der Demokratie: das Problem der deutschen Demokratie und das Problem der Demokratie in den Entwicklungslandern. Die meisten anderen Gegenstande der Reflektion und Forschung sind nur Facetten und Aspekte der beiden Fragenkomplexe: Wie konnte die Demokratie in einem industrialisierten, »west-lichen«, »zivilisierten« Land im Nationalsozialismus enden? Welche Elemente sozialer Strukturen werden also vom freundlich verall-gemeinernden Modell der »industriellen Gesellschaft« nicht erfaßt? Und: Kann die Demokratie in Indien, in Ghana, in China funktionieren? Welche Widerstände setzen die Sozialstrukturen industrialisierender Länder der Ausbildung einer wirksamen Demokratie entgegen? Die beiden Fragen scheinen auf den ersten Blick sehr verschiedene Antworten zu verlangen. In beiden Fällen geht es zwar um das Verhältnis von Demokratie und Sozialstruktur. Während aber das Nichtfunktionieren der Demokratie in Entwicklungsländern eher unsere ohnehin zögernden Wünsche als unsere Erwartungen enttäuscht, rührt das Versagen der deutschen Demokratie an die Grundlagen des Selbstverständnisses der westlichen Welt. Um in der handfest ideologischen Sprache der älteren deutschen Ethnologie zu sprechen: Was bei »primitiven Naturvölkern« nicht überrascht, ist bei einem »hochentwickelten Kulturvolk« ein bedrängendes Problem. Es wird noch zu zeigen sein, daB die »Natur-« und die »Kulturvölker«, die beiden Probleme der deutschen und, sagen wir, der chinesischen Demokratie einander so ganz unähnlich nicht sind. Die Formen der Industrialisierung in beiden Ländern haben manches miteinander gemeinsam; in der Tat stellt die deutsche industrielle Revolution von oben so etwas wie einen Modellfall der »verspäteten Industrialisierung« — gemessen am klassischen Beispiel Englands — dar. Doch sind solche Gemeinsamkeiten erst das Ergebnis einer Untersuchung, die sich auf eines der beiden Probleme konzentriert: das Verhältnis von Demokratie und Sozialstruktur in Deutschland.
(1) Vgl. Schumpeter, J., Capitalism, Socialism and Democracy (London, 1943), p. 269CrossRefGoogle Scholar. An Schumpeters Definition scheinen mir vor allem folgende Elemente deskriptiv sinnvoll: 1) die Rede von der Demokratie als einem »institutionellen Arrangement«, 2) die Betonung des ihr innewohnenden Mechanismus zur Entschei-dungsfindung, 3) die Anerkennung der prinzipiell repräsentativen Natur der Demokratie, 4) die Hervorhebung des Wettbewerbscharakters demokratischer Regierung.
(2) Vgl. Lipset, S. M., Der »Faschismus« — die Linke, die Rechte und die Mitte; Kölner Zeitschrift für Soziologie, XI (1959), p. 401 sqqGoogle Scholar. An Hand dieser Analyse wird unten in Abschnitt 3 Berechtigung und Irrtum der verallgemeinernden Analyse der deutschen Gesellschaft weiter zu verdeutlichen sein.
(3) Parsons, T., Democracy and Social Structure in Pre-Nazi Germany, Essays in Sociological Theory2, rev. ed. (Glencoe, 1958), p. 105 sq.Google Scholar
(4) Am amüsantesten und bedenklichsten unter den mir bekannten Versuchen dieser Art ist das Kapitel »Vom deutschen Nationalcharakter« in dem Buch von Röpke, W., Die deutsche Frage2 (Zürich, 1948)Google Scholar. Die meisten der folgenden »deutschen Nationaleigenschaften« sind diesem Buch entnommen.
(5) Vgl. dazu Spenlé, J.-E., Der deutsche Geist von Luther bis Nietzsche (Meisenheim, 1948).Google Scholar
(6) Taylor, A. J. P., The Course of German History2 (London, 1945), p. 9.Google Scholar
(7) Mr. Taylor und andere seinesgleichen mögen diesen Effekt nicht beabsichtigt haben, doch steckt ein Schuß Hegelianismus in jedem Argument von der Form »Die deutsche Geschichte ist ein Produkt des deutschen Geistes« — um ein Wort des noch in Hegel befangenen jungen Marx (»Die belgische Revolution ist ein Produkt des belgischen Geistes«) abzuwandeln.
(8) Parsons, T., op. cit., p. 108.Google Scholar
(9) Ibid., p. 110.
(10) Ibid., p. 123.
(11) Das vorstehende Resumé kann offenkundig nur einen sehr oberflächlichen Eindruck der brillanten Analyse von Parsons vermitteln. Der Sinn dieser Zusam-menfassung liegt daher vorwiegend in der Anerkennung der Anregung mancher Elemente meiner eigenen Analyse durch Parsons' Essay.
(12) Th. Geiger, , Die soziale Schichtung des deutschen Volkes (Stuttgart, 1932), p. 111.Google Scholar
(13) Lipset, S. M., op. cit., p. 411.Google Scholar
(14) Lasswell, H., The Psychology of Hitlerism, The Political Quarterly, IV (1933), p. 374Google Scholar. Zitiert bei Lipset, S. M., op. cit., p. 405.Google Scholar
(15) Lewis, R. and Maude, A., The English Middle Classes (Penguin Books, 1953), p. 67.Google Scholar
(16) Th. Geiger, , Die Klassengesettschaft im Schmelztiegel (Köln-Hagen, 1949), p. 14.Google Scholar
(17) Hierin liegt die Ironie der historischen Rolle des »Mittelstandes«, die von denen übersehen wird, die allzu leichtfertig »Liberalismus« und »Mittelstand« identinzieren und die »middle-class democracy« preisen. Zwischen dem Mittelstand des 18.Jahrhunderts, der die Zukunft in sich trug, und dem Mittelstand des 20.Jahrhunderts, der von einer größeren Vergangenheit (die nicht seine ist) träumt, besteht kaum eine Verbindung.
(18) Bendix, R., Work and Authority in Industry (New York – London, 1956), p. 21.Google Scholar
(19) Hier ist zum ersten Mai eine Einschränkung zu erwähnen, die zugleich für die gesamte folgende Analyse gilt. Diese wie viele spätere Aussagen gilt nur unter der Voraussetzung, daß Preußen die dominierende Kraft der deutschen Gesellschaft vor 1933 war. Diese Voraussetzung läßt sich durch mancherlei Daten begründen: Vor 1914 umfaßte das Königreich Preußen sowohl an Fläche als auch an Bevölkerung etwa zwei Drittel des Deutschen Reiches; wesentliche andere Teile Deutschlands standen unter direkter preußischer Hegemonie; Preußens mittelbarer Einfluß, der ja zugleich der der Reichshauptstadt war, war überall spürbar. Dennoch unterlagen nicht alle Regionen in gleicher Weise der preußischen Hegemonie. Insbesondere für Bayern, für die Hansestädte und Würt-temberg (mit ihrer alten autonomen Bourgeoisie) sind hier z.T. wesentliche Einschränkungen nötig, die zu präzisieren allerdings Aufgabe einer eigenen Untersuchung wäre.
(20) Hier liegt daher — von Parsons (op. cit.) richtig gesehen — der soziologische Ort der Resultate vieler Einzeluntersuchungen wie (zum Problem der Familie) Horkheimer, M., Autorität und Familie (Paris, 1935)Google Scholar; (zum Problem des Betriebes) Briefs, G., »Betriebssoziologie«, in Handwörterbuch der Soziologie3 (Stuttgart, 1959)Google Scholar, und Neuloh, O., Die deutsche Betriebsverfassung und ihre Sozialformen bis zur Mitbestimmung (Tübingen, 1956)Google Scholar; (zum Problem des Liberalismus) Krieger, L., The German Idea of Freedom (New York, 1950)Google Scholar; usw.
(21) Lipset, S. M., op. cit., p. 404.Google Scholar
(22) Deutlicher noch wird das hier gemeinte Bündnis vielleicht an der Person Hugenbergs, der in seinem Denken und Handeln die in ihrem Herrschaftsanspruch zu kurz gekommene, dann freiwillig abhängige deutsche Bourgeoisie eindringlich verkörpert. Die fatale Rolle der Rechtsex-tremisten in der ersten Phase der national-sozialistischen Herrschaft wird aus den kürzlich veröffentlichten Protokollen der Sitzungen des Kabinetts Hitler, in denen über das Verbot der Kommunisten diskutiert wurde, deutlich. Hier waren die Rechts-konservativen, zunächst gegen die vorsichtig taktierenden Nazis, die Urheber der ersten Maßnahmen zur Unterdrückung der Opposition. Vgl. Der Spiegel, 13/48 (25–11–59), p. 54.Google Scholar
(23) Vgl. Boese, F., Geschichte des Vereins fur Sozialpolitik 1872–1932 (Berlin, 1939), Anh. III, p. 248 sq.Google Scholar
(24) Jantke, C., Der Vierte Stand (Hamburg, 1955), p. 210Google Scholar. Leider kann der besondere Zusammenhang von Staat und Wirtschaft im deutschen Kaiserreich hier nicht im einzelnen untersucht werden. Eine solche Untersuchung würde wahrscheinlich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zur staatlichen Industrialisierung etwa Rußlands im 20. Jahrhundert ergeben. Damit steht das deutsche Beispiel zwischen den von Bendix (op. cit.) untersuchten Extremfällen Englands und Rußlands und zeigt eine ganz eigene Proble-matik.
(25) Es ist in diesem Zusammenhang sicher nicht zufällig, daß die Wirtschafts-wissenschaft sich in Deutschland noch heute weder als »economics« noch als »économie politique«, sondern als »National-ökonomie« Oder »Volkswirtschaftslehre« begreift.
(26) Schumpeter, J., Op. cit., p. 73.Google Scholar
(27) Lassalle, F., Arbeiterprogramm, neue Ausg. (Offenbach, 1946), p. 41.Google Scholar
(28) Stampfer, F., Die ersten 14 Jahre der Deutschen Republik (Offenbach, 1947), p. 439.Google Scholar
(29) In dem Widerspruch zwischen einem aufrichtigen demokratischen Willen und dem Verhaftetsein in den antidemokratischen Traditionen des Kaiserreiches liegt, so möchte ich meinen, die eigentliche Tragödie der deutschen Linken. Der Widerspruch löst sich vielleicht an Hand des Begriffes von Demokratie, der der Arbeiter-bewegung vorschwebte. »Demokratie« hieß hier von Anfang an vor allem »Gleichheit«: das gleiche Wahlrecht, die gleiche Verteilung der Güter, die gleichen Chancen für alle. Die Identität der Gleichheit mit der Freiheit und dem Wettbewerbssystem des repräsentativen Staates wurde vorausgesetzt, aber nicht geprüft. Mir scheint, daß die kritische Prüfung dieses Erbes für die deutsche Sozialdemokratie heute weit wesentlicher ist als die endlose theoretische Diskussion des Marxismus.
(30) Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, 4. Aufl. (Hamburg, 1955), § 257, §258, p. 207 sq.Google Scholar
(31) Ibid., § 249, p. 203.
(32) Gerade unter dem hier in Frage stehenden Aspekt würde ich den Wunsch des Historikers Maitland auch für die Soziologie übernehmen: »But if some fairy gave me the power of seeing a scene of one and the same kind in every age of history of every race, the kind of scene that I would choose would be a trial for murder, because I think that it would give me so many hints as to a multitude of matters of the first importance« Stern, Zitiert bei F.The Varieties of History (New York, 1957), p. 29.Google Scholar
(33) Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920, § 1.
(34) McPherson, W. H. »Betrachtungen zur deutschen Arbeitsverfassung«, in Wege zum sozialen Frieden, hrsg.v. H. D. Ortlieb u. H. Schelsky (Stuttgart – Düsseldorf, 1954), p. 69.Google Scholar
(35) McPherson, W. H., loc. cit., p. 69 sq.Google Scholar
(36) Stern, F., »Germany and the West — The Political Consequences of the Unpolitical German«, vervielf. Abdruck eines Vortrages vor der American Historical Association, 1957.Google Scholar
(37) Hofstätter, F., Gruppendynamik (Hamburg, 1957), pp. 63–70Google Scholar. Es ist Hofstätter nicht recht gelungen, die doch überraschende Ähnlichkeit der englischen und amerikanischen Assoziationsprofile befriedigend zu erklären. Vielleicht vermag das hier versuchte Argument zu einer solchen Erklärung einen Ansatz zu liefern.
(38) Vgl. Friedrich, C. J., Demokratie als Herrschafts- und Lebensform (Heidelberg, 1959).Google Scholar
(39) Die Ziffern zerstörter Ehen sollten hierfür einen Anhaltspunkt geben. Nur müßten bei einer empirischen Prüning der hier formulierten Annahme nicht die Scheidungsziffern allein, sondern (zumal in England) die Zahlen getrennter Ehen berück-sichtigt werden.
(40) Hegel, G. W. F., op. cit., § 181, p. 164.Google Scholar
(41) So Hegel, , op. cit., § 182, § 183, p. 165Google Scholar. Durch Marx ist Hegels Analyse der bürgerlichen Gesellschaft zu beträchtlichem Ruhm gelangt; doch darf man nicht übersehen, daß sie innerhalb seiner Dialektik der »Sittlichkeit« die Stufe der Negation bezeichnet, der — wie stets — der Unwille seiner Synthese in sehr viel stärkerem Maße gilt als der Position oder These.
(42) Vgl. zum folgenden Abschnitt auch meinen Essay »The Intelligentsia Which Is Not«, Chicago Review, 03 1960.Google Scholar
(43) Stern, F., op. cit.Google Scholar
(44) Der Beamtenstatus deutscher Professoren (wie der Professoren einiger anderer Länder) impliziert selbst schon eine sehr problematische Definition der sozialen Rolle des Intellektuellen. Man könnte immerhin meinen, daß die Aufgaben des Beamten und des Intellektuellen sich in allen wesentlichen Punkten geradezu widersprecheu, und daß dieser Tatsache auch in der sozialen Stellung der beiden Gruppen Rechnung getragen werden sollte.
(45) Von Treitschke, H., Historische und politische Aufsätze4 (Leipzig, 1871), p. 235.Google Scholar
(46) Mannheim, K., Ideologie und Utopie3 (Frankfurt 1952), p. 137.Google Scholar
(47) Vgl. The Von Hassell Diaries (London, 1948), p. 76Google Scholar. Von Hassell selbst war bekanntlich nach dem 20.Juli eines der Opfer der von ihm beschriebenenen Entwicklung.
(48) Bendix, R., op. cit., p. 352.Google Scholar
(49) Vgl. Bendix, R., op. cit., p. 350Google Scholar: »A ruling party is distinguished from a dominant class by the fact that its interests and ideology are authoritatively defined by a central governing body«.
(50) Die in diesen Sätzen angedeuteten Tendenzen mögen dem oberflächlichen Beobachter sehr viel auffälliger scheinen als die zuvor erwähnten. Hier sind die internen und öffentlichen Diskussionen um das Kartellgesetz, das Verhältnis von Kohle und Öl, die Errichtung eines »Mittelstandsministeriums«, die Einführung der Mitbestimmung in der Montanindustrie sowie die Existenz eines »Familienministeriums« und die Misere der deutschen Schulpolitik noch in wacher Erinnerung — sämtlich Probleme, die an die Grundlagen der deutschen Sozialstruktur rühren. Doch würde ich gegenüber solchen möglicherweise bedenklichen Entwicklungen an der These festhalten, daß die fundamentalen Wandlungen der (west-) deutschen Sozialstruktur nach dem Kriege, die Antworten auf die Herausforderungen des Hitler-Regimes, ein Strukturbild begünstigen, in dem die politische Demokratie gedeihen kann.
(51) Man mag fragen, ob der Soziologe sich nicht durch den Leichtsinn einer so allgemeinen, schematischen und zugleich skizzenhaften Analyse seiner eigenen Gesellschaft den Gefahren des Wertens und des Mißverständnisses aussetzt. Was die erste dieser Gefahren betrifft, so habe ich sie bewußt auf mich genommen. Natürlich gerät bei einer so kurzen Darstellung wie der hier versuchten manches allzu schwarz und anderes allzu weiß; gerade der Vergleich der ostdeutschen und der westdeutschen Gesellschaft müßte durch viele Nuancen eingeschränkt werden; doch war es nicht meine Absicht, die Farben des persönlichen Werturteils aus der Untersuchung eines Problems herauszuhalten, das mich als deutschen Soziologen notwendig an den Wurzeln meiner intellektuellen Existenz berührt. Was aber die Gefahr des Mißverständnisses angeht, so ist diese unvermeidlich, wenn ein schwerwiegendes und umfassendes Problem in seiner ganzen Breite angepackt wird. Es schien mir wichtiger, das Letztere zu tun als das Erstere zu vermeiden.